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Solidarität: Unterpfand unserer Zukunft
Unser Grundwert: Solidarität
Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität - das ist der Dreiklang sozialdemokratischer Grundwerte. Gerade letzterer wird zunehmend in unserer Partei diskutiert. Anspruch dahinter ist es, Solidarität als politisches Prinzip neu zu beleben und uns in allen sozialen und politischen Feldern wieder an ihr zu orientieren. Die SPD-Grundwertekommission hat deshalb im Februar 2019 ein Papier unter dem Titel „Solidarität – Unterpfand unserer Zukunft“ beraten, mit Expert*innen diskutiert und verabschiedet. Das Papier soll zunächst das Verständnis von Solidarität klären, Gründe benennen warum sie verlorengegangen ist und prinzipielle Chancen aufzeigen, sie wiederzubeleben. Darüber hinaus wollen wir zeigen und begründen, wie Solidarität Politik in den verschiedenen Themenfeldern – von der Globalisierung bis in die Kommune – leiten kann und sollte.
"Demokratie will und braucht Freiheit, Offenheit, Verständigung und die Kooperation der Bürgerschaft. Und diese verlangte Sicherheit – materiell-soziale, ebenso wie ideell-psychische, vor allem die Anerkennung des Wertes und der Würde jedes Einzelnen. Diese lässt sich weder polizeilich-militärisch noch kollektiv-politisch erzwingen. Sicherheit gelingt letztlich nur, wenn die Bürgerinnen und Bürger zu Staat und Politik eine grundsätzlich positive Haltung einnehmen, wenn sie die kommunale, nationale und europäische, aber möglichst auch unsere globale Politik als legitim ansehen. Das wiederum verlangt, dass sie daran teilhaben können. Und dass sie sich dabei prinzipiell miteinander verbunden fühlen, dass sie bereit sind, füreinander Verantwortung zu übernehmen, für einander einzustehen. Identifikation durch Partizipation!
Ohne Solidarität gibt es weder Sicherheit noch Freiheit. Wo diese Einsicht verloren geht, entstehen im Großen Brüche, Krisen, Unruhen, Gewalt in der Gesellschaft und im Kleinen Kälte, Rücksichtslosigkeit, Angst und Egoismus. Wenn jeder nur an sich denkt, ist eben nicht an alle gedacht.
Das Papier zum Download
Wir wollen kein Katastrophenbild zeichnen und keine Schwarzmalerei betreiben. Aber kritische Anzeichen für die Gefährdung von Solidarität im Großen und auch im Kleinen sind unübersehbar. Das zeigt uns die Alltagserfahrung der Rücksichtslosigkeit oder zumindest der Indifferenz, wenn andere leiden. Den Gaffern bei Unfällen ist das eigene Foto wichtiger als die lebensrettende schnelle Hilfe. Unfreundliches Anblaffen nimmt zu. Auf den Schulhöfen werden Aggressionen ausgelebt, Lehrerinnen und Lehrer fühlen sich angesichts dessen oft hilflos. Aufmerksamkeit und Hilfsbereitschaft kommen für zu viele Menschen aus einer anderen, altmodischen Welt. Dazu hat auch eine Manie des Wettbewerbs in allen Bereichen der Gesellschaft beigetragen, die andere immer zuerst als Konkurrenten, also als Gegner erscheinen lässt und die gegenseitige Indifferenz, ja Feindseligkeit steigert. Wir müssen also Solidarität neu beleben. Solidarität muss auf allen politischen, ökonomischen und sozialen Feldern wieder zur Orientierung und erkennbar werden im politischen Handeln wie im persönlichen Leben. Das gibt der Solidarität als Wert und Maxime Stimmigkeit, Ausstrahlung und Stärke.
Was verstehen wir unter Solidarität? Wodurch unterscheidet sie sich von Nächstenliebe oder Barmherzigkeit? Wie ordnet sich Solidarität in den Wertekanon der Sozialdemokratie ein? Warum wurde sie in den letzten Jahren so gegen Verantwortung in Stellung gebracht, mit der Aufforderung, sich nicht auf Solidarität zu verlassen, sondern stattdessen „Selbstverantwortung“ zu praktizieren? Was ist der Wert von Solidarität angesichts umstürzender technologischer Veränderungen genauso wie tiefgreifender klimatischer, ökologischer Herausforderungen? Worin zeigt sich eine Politik der Solidarität im Verhältnis der Staaten und politischer Gemeinschaften zueinander? Was bedeutet ein solidarisches Leben? Wie sollte Solidarität in der Sozialdemokratie und im Verhalten ihrer Mitglieder, Freunde und Unterstützer erkennbar werden und sich verwirklichen?
Die Grundwertekommission beim SPD-Parteivorstand möchte mit diesem Text einen Anstoß zu einer erneuerten vertieften Auseinandersetzung mit dem Grundwert der Solidarität geben. Nach einer Klärung des Verständnisses von Solidarität, der Gründe, warum sich die Bedeutung von Solidarität verändert hat und ihre Wirkungskraft gefährdet ist, sollen die prinzipiellen Chancen aufgezeigt werden, Solidarität wiederzubeleben. Wir erörtern, wie Solidarität die Politik in den verschiedenen Feldern – von der Gestaltung des kommunalen Lebens bis in die Steuerung der Globalisierung hinein - leiten könnte und sollte. Solidarität steht dabei auch für persönliche Haltung und Handlung.
Bedeutung und Chancen von Solidarität
Solidarität ist Kernbestand sozialdemokratischer Politik. Sie umfasst die Bedeutungen der individuellen Motivierung, der kollektiven Orientierung und des Prinzips organisierter Institutionalisierung. Zu ihren historischen Quellen gehören die monotheistischen Religionen, römisches Rechtsdenken, Humanismus, Aufklärung sowie die Grundwerte der Französischen Revolution, insbesondere die Brüderlichkeit.
Das spezifisch sozialdemokratische Verständnis von Solidarität ist im Kampf um Gleichberechtigung und soziale Sicherheit, in der Arbeitswelt wie im Alltagsleben geprägt worden. Es beruht auf gegenseitiger Verlässlichkeit, setzt Vertrauen voraus und bildet Vertrauen. Es beruht auf einem Menschenbild, das an eine prinzipielle Vertrauenswürdigkeit und -fähigkeit der Menschen glaubt. Solidarität mündet institutionell im Sozialstaat, der aufgrund neuer Herausforderungen wie Globalisierung und Digitalisierung weiterentwickelt werden muss. Sozialdemokratische Solidarität hat immer schon nationale Grenzen überschritten und umfasst tendenziell alle Menschen
Ende der 70er Jahre des 20. Jahrhunderts haben - im Zuge der ökonomischen und technologischen Globalisierung - neoliberale bzw. marktradikale Politik und Kultur die Solidarität schwer beschädigt. Die Reduzierung staatlicher Verantwortung zugunsten der Privatisierung von Gütern, Dienstleistungen und Versicherungen erhielt Priorität. Individuelle „Eigenverantwortung“, die nur noch die Privatsphäre umfasste, und „Wettbewerb“, traten politisch kulturell an die Stelle von Solidarität und Verantwortung für die Gemeinschaft. Diese hier idealtypisch nachgezeichnete Logik des „Neoliberalismus“ hat Eingang in viele gegenwärtige deutsche, europäische, insgesamt kapitalistisch grundierte Politiken und Institutionen gefunden. Die Demokratie hat dadurch ihre Inklusionsfähigkeit erheblich eingebüßt, immer größere Teile der Gesellschaft fühlen sich nicht berücksichtigt, wenden sich von ihr ab und suchen ihr Heil nun in scheinbaren Sicherheitsversprechen autoritärer Gesellschafts- und Demokratievorstellungen. Ohne eine Renaissance institutioneller und kultureller Solidarität, auf die das menschliche Grundbedürfnis nach Anerkennung und sozialer Sicherheit angewiesen ist, hat die Demokratie deshalb weltweit immer weniger Chancen.
Forschungen und philosophische Analysen zeigen jedoch, dass es gute Chancen gibt, Solidarität wiederaufzubauen. Für solidarisches Handeln in der Politik besteht fast immer ein Spielraum. In welchem Maße dabei die Bereitschaft zur Solidarität wirksam wird, hängt von den sozialen Bedingungen des Handelns ab. Direkte soziale Verständigung ist die wichtigste Quelle der Bereitschaft zur Solidarität. Sobald Menschen in der Lage sind, miteinander zu kommunizieren, folgen sie in der Regel nicht rein egoistischen Interessen. Die Erfahrung zeigt: Soziale Gerechtigkeit und die damit einhergehende Sicherheit fördern Solidarität und gründen zugleich in ihr.
Es gibt vitale lebensweltliche Anknüpfungs-möglichkeiten für eine Renaissance von Solidarität. Die besten Chancen dafür bieten persönlich überschaubare Erfahrungsräume: in der Familie, in den Bildungsstätten, der Nachbarschaft, in Arbeit und Beruf und nicht zuletzt, ganz allgemein, in den Kommunen. Die sozialdemokratische Familienpolitik, die eine partnerschaftliche Verteilung von Familien- und Berufsarbeit fördert, kommt nicht nur den Wünschen der allermeisten Bürgerinnen und Bürger und den Bedarfen der Wirtschaft entgegen. Sie bietet auch eine herausragende Chance, Solidarität und gegenseitige Hilfe von früh auf zu lernen und als soziale wie politische Ressource aufzubauen. Faire Flexibilisierungen der Arbeitszeit, eine dazu passende Wohnungs- und Stadtentwicklungspolitik, eine partizipatorisch ausgerichtete Kommunalpolitik, die z.B. Wert auf eine gemeinwohlorientierte Gestaltung öffentlicher Räume legt, gehören dazu. Hier wird ersichtlich, dass die Kommunen politisch immer mehr an Bedeutung für die Gestaltung sozialdemokratischer Solidarität gewinnen. Denn sie sind partizipatorisch gestaltbar, verantwortungsnah und lebensweltlich konkret. Darüber hinaus müssen Sozialdemokratinnen und Sozialdemokraten in der Bildungspolitik die Ziele politischer Gemeinwohlorientierung, Urteilsfähigkeit und gesellschaftlicher Verständigungsbereitschaft, vor allem die Fähigkeit zu Kooperation und Solidarität mit Entschiedenheit wieder obenan stellen.
Handlungsfelder der Zukunft
In den Handlungsfeldern der Zukunft spielt die Solidarität mit den kommenden Generationen eine entscheidende Rolle, weil das Überleben der menschlichen Gattung von unserer Fähigkeit zu solidarischem Handeln abhängt. Die Sozialdemokratie kann und muss deshalb zur Vorreiterin einer gerechten sozial-ökologischen Transformation werden. Damit wird sie zugleich die Partei eines neuen Reformpfads, der national, europäisch und global von der Solidarität mit kommenden Generationen geprägt ist. Die Beachtung der planetaren Grenzen und die Verringerung des ökologischen Fußabdrucks sind zu einem kategorischen Imperativ geworden, national, europäisch und global. Dessen Befolgung wird nur möglich, wenn die Chancen und Lasten im Transformationsprozess durch eine solidarische Politik gerecht verteilt werden. Die künftige Entwicklung muss auf erneuerbaren Technologien und geschlossenen Stoffkreisläufen aufbauen und durch eine Effizienzrevolution in der Nutzung von Energie und Rohstoffen und von Suffizienz im Konsumverhalten gekennzeichnet sein.
Sowohl lokal, als auch national und global, drückt sich heute Solidarität in der Verankerung und praktischen Umsetzung des Prinzips der Nachhaltigkeit aus. Globale Solidarität ist ein entscheidender Beitrag dazu, dass alle Regionen der Welt und die zukünftigen Generationen die Chance erhalten, ihre Bedürfnisse menschenwürdig zu befriedigen. Die Nachhaltigkeitsziele der UN und die Agenda 2030 sind deshalb der Ausdruck politisch verankerter Solidarität. In Europa muss sich globale Solidarität vor allem in der Beziehung zu unserem Nachbarkontinent Afrika zeigen. Besonders dringend ist globale Solidarität bei der Frage der Migration und der Situation von Flüchtlingen. Wir brauchen legale Wege für Flucht und Migration und die Verpflichtung zu einem respektvollen öffentlichen diesbezüglichen Diskurs. Das Prinzip der Solidarität muss endlich auch in der europäischen Flüchtlingspolitik zum Ausdruck kommen. Eine deutlichere Unterscheidung ist notwendig zwischen der Sicherung des Grundrechtes auf Asyl sowie der Anerkennung von Kriegsflüchtlingen einerseits und der geplanten Zuwanderung andererseits.
Institutionen der Solidargemeinschaft und soziale Grundgüter können und sollen in einem zusammenwachsenden Europa nicht mehr allein national gedacht und realisiert werden. Wenn die EU angesichts der Spannungen in ihren Gesellschaften nicht auseinanderbrechen soll, müssen wir an die Wurzel der gegenwärtigen, durchaus existenzbedrohenden Krisen gehen: den Mangel an gesamteuropäischer Solidarität auf der Ebene der nationalen Regierungen. Europa muss, trotz der prinzipiellen Zuständigkeit der Nationalstaaten für die soziale Sicherheit, im Alltag für die Menschen und ihr persönliches Umfeld eine Perspektive von Schutz und Verlässlichkeit bieten. Hier muss eine Reform zugunsten von Solidarität und Bürgernähe ansetzen. Die Förderung und Stärkung von Daseinsvorsorge durch merkbare Unterstützung der Kommunen, sollte als Selbstverständnis und neues Identitätsmerkmal der Europäischen Union entwickelt werden. So kann eine neue Verbundenheit der Bürgerinnen und Bürger Europas mit der Europäischen Union und eine neue europäische Identität geschaffen werden, die für ein stabiles Europa mit sozialem Zusammenhalt steht.
Mit Blick auf globalisierte Märkte und die europäische Währungsunion, bedarf es einer Europäisierung der solidarischen Marktwirtschaft durch eine europäische Koordination der nationalen Finanz-, Geld-, und Lohnpolitiken. Ein möglicher Anknüpfungspunkt ist der makroökonomische Dialog auf europäischer Ebene. Gefragt wäre deshalb eine Reform der europäischen Fiskalregeln, um künftig neben der Schuldentragfähigkeit auch ein angemessenes Niveau öffentlicher Investitionen und ein ausreichendes Niveau sozialer Absicherung durch das öffentliche Gemeinwesen sicherzustellen. Eine europäische Wirtschaftsregierung könnte künftig durch eigene Mittel das Niveau öffentlicher Investitionen stärken und nationale Staatshaushalte in Krisensituationen unterstützen, um die Bereitstellung von Sozialleistungen zu sichern. Im Rahmen einer europäischen Sozialunion sollten künftig Fehlentwicklungen bei Löhnen und Einkommen verhindert werden. Zu diesem Zweck sollten die nationalen Tarifsysteme gestärkt und europäische Regeln für nationale Mindestlöhne entwickelt werden.
Ein solidarisches Wirtschaftssystem setzt eine Demokratisierung der Arbeitswelt voraus. Die Arbeitsbeziehungen sind im modernen Kapitalismus geprägt durch ungleiche Machtverhältnisse. Die Macht der Arbeitgeber leitet sich aus dem Recht auf Eigentum oder aus der Exekutivgewalt der öffentlichen Hand ab. Mitbestimmung und Mitwirkung, Schutz- und Gestaltungsrechte der abhängig Beschäftigten waren und sind immer wieder umkämpft. In einer komplexen arbeitsteiligen Volkswirtschaft reicht es aber nicht aus, wenn die Demokratie die Betriebe erreicht. Einzel- und gesamtwirtschaftliche Interessen fallen häufig auseinander. Deswegen müssen die betrieblichen und gesellschaftlichen Entscheidungen aufeinander abgestimmt werden.
Der real existierende Kapitalismus ist eine Mischwirtschaft, die durch eine große Bandbreite von Eigentumsformen und ein umfangreiches staatliches Regelwerk gekennzeichnet ist. In den letzten drei Jahrzehnten der Vorherrschaft marktradikaler Ideologien wurde die Mischwirtschaft durch eine Politik der Liberalisierung, Deregulierung und Privatisierung jedoch immer stärker auf die Bedürfnisse privater Kapitaleigner zugeschnitten. Deshalb stellt sich heute mehr denn je die Frage nach einer demokratischen und solidarischen Neuordnung des Wirtschaftens. Wer gesellschaftlich notwendige Entwicklungen zugunsten von Solidarität und Gemeinwohl vorantreiben will, braucht häufig einen handelnden Staat.
Das Prinzip der Solidarität gebietet es, dass öffentliche Güter für jeden zugänglich sind, unabhängig von den finanziellen Möglichkeiten. Hierfür bedarf es eines gemeinwohlorientierten öffentlichen Sektors. Neben dem Markt- gibt es aber auch Staatsversagen. Öffentliches Eigentum allein ist keine Garantie dafür, dass die Unternehmenspolitik auch am gesellschaftlichen Bedarf ausgerichtet wird. Entscheidend sind demnach nicht allein die formellen Eigentumsverhältnisse, sondern vor allem die realen Einfluss- und Entscheidungsmöglichkeiten. Solidarisches Wirtschaften zeichnet sich durch eine demokratische und effiziente Steuerung, Transparenz und Kontrolle öffentlichen Eigentums aus.
Vor dem Hintergrund der vielfältigen Probleme privatwirtschaftlicher Unternehmen erfährt das Genossenschaftsmodell neue Bedeutung. Durch Genossenschaftsgründungen entsteht ein Experimentierfeld, um neue Verfahren solidarischen Wirtschaftens jenseits der Renditemaximierung auszuprobieren. Dazu gehört seit den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auch die „Gemeinwohlökonomie“.
Ein zentrales Feld sozialstaatlicher solidarischer Regulierung ist der Arbeitsmarkt. Die deutsche Volkswirtschaft konnte die große Finanzmarktkrise nicht zuletzt wegen der praktizierten Sozialpartnerschaft und Wirtschaftsdemokratie relativ erfolgreich bewältigen.
Der Sozialstaat als Kernbestand institutionalisierter Solidarität und sozialdemokratischer Politik zugunsten sozialer Sicherheit muss angemessen umgestaltet werden. Ein wesentliches Merkmal dabei wird die Teilhabe der Bürgerinnen und Bürger sein, damit Solidarität lebbar und erlebbar und nicht einfach an einen fernen Wohlfahrtsstaat delegiert wird. Zur Teilhabe gehört auch das Recht, individuell mit entscheiden zu können, wie die sozialstaatliche Infrastruktur beschaffen sein sollte, um wirksam auf die Lebenssituationen der Menschen eingehen zu können. Solidarische Praxis muss Teilhabe, Inklusion und Gemeinwohl miteinander vermitteln.
Gegen aktuell wiederkehrende Vorschläge für ein „Bedingungsloses Grundeinkommen“ plädiert das sozialdemokratische Verständnis von Solidarität für eine erhebliche Verbesserung und bürgernahe Ausrichtung der sozialen Infrastruktur. Dazu braucht es eine institutionell verankerte soziale Sicherheit durch Rechtsansprüche, Tarifverträge sowie durch das System der Sozialversicherungen.
Wichtige organisierte Akteure sind – neben dem Staat – die Gewerkschaften, die kollektives Handeln im Sinne eines solidarischen Ausgleichsprozesses zwischen verschiedenen Gruppen ermöglichen. Durch zurückgehende Organisationsgrade in den Gewerkschaften und den zunehmenden Rückzug immer größerer Arbeitgeberkreise aus der Tarifbindung, ist dieses Instrument institutioneller Solidarität in den letzten drei Jahrzehnten allerdings deutlich geschwächt worden. Neben den kollektiven Arbeitsbeziehungen, die die solidarische Primärverteilung gestalten sollen, bilden die Sozialversicherungen und das Steuersystem das zweite Standbein einer sekundären Solidarpolitik, also einer Politik, die nachträglich Ungerechtigkeiten oder Mängel ausgleicht.
Am stärksten ausgeprägt ist das Solidaritätsprinzip in der gesetzlichen Krankenversicherung (GKV). Allerdings droht durch die Unterscheidung zwischen öffentlichen und privaten Krankenkassen inzwischen eine Zweiklassenmedizin. Eine für alle gleichermaßen verbindliche Bürgerversicherung wäre ein Weg zu einem konsequent solidarischen Gesundheitssystem für alle Bürgerinnen und Bürger.
Gegenwärtig wird ein immer größerer Teil der Menschen aus den solidarischen Sicherungssystemen ausgegrenzt. Eine neue Solidarität ist erforderlich, um diesen Menschen wieder institutionelle Sicherheiten in aktualisierter Form zu garantieren. Ein Gradmesser für die solidarische Identifizierung mit unserem Gemeinwesen, ist die Einstellung zu Steuern, die als „Steuerlast“ negativ konnotiert sind. Eine der schwierigsten politischen und kulturellen Herausforderungen liegt darin, dieses negative Verständnis in ein positives zugunsten der Sicherheit aller Bürgerinnen und Bürger umzuwandeln. Denn Solidarität und Sicherheit stützen sich gegenseitig. Beide stärken die Identifizierung mit dem Gemeinwesen.
Wohnen wird gerade zur neuen Sozialen Frage des 21. Jahrhunderts. Deshalb muss es, neben der kontinuierlichen Sicherstellung der sozialen Güter für die anderen Grundbedürfnisse, ein vorrangiges Ziel solidarischer Politik sein, allen Menschen in Deutschland ausreichend lebenswerten und bezahlbaren Wohnraum auch in den Städten zur Verfügung zu stellen. Neben Fragen der Bezahlbarkeit des Wohnens, ergibt sich ein politischer Handlungsbedarf auch aus dem demografischen Wandel in Deutschland und der dauerhaften Migration. Von grundlegender Bedeutung ist dafür allerdings eine Reform des Bodenrechts, das Wertzuwächse steuerlich angemessen bewertet und dafür sorgt, dass die Regeln des Marktes nicht unbeschränkt für ein Gut gelten, das unvermehrbar und unverzichtbar ist.
In Zeiten der Digitalisierung verändern sich die Bedingungen für ein solidarisches Miteinander in vielfacher Hinsicht. Zum einen entwickelt sich das z.T. durch Algorithmen gesteuerte „Scoring“ von Menschen zu einer Gefahr für ihre Autonomie und für ihre gegenseitige solidarische Sicherung. Hier brauchen wir klare Regulierungen. Angesichts sich parzellierender Öffentlichkeit, der Entbetrieblichung der Arbeit, der veränderten Anforderungen an den Sozialstaat und eines wirkmächtigen libertären Diskurses wird Solidarität gleichzeitig schwieriger und notwendiger.
Die Tatsache, dass durch die strukturellen Probleme, die die Digitalisierung hervorruft, der Wohlfahrtsstaat unterwandert werden kann, zumal wenn alternative libertäre Modelle bereits vorliegen, zeigt wie wichtig es ist, dass die Sozialdemokratie die Idee der gesellschaftlichen Solidarität und ihre Institutionalisierung in Zeiten der Digitalisierung neu denken muss. Der technologische Wandel erfordert mehr gesellschaftlichen Zusammenhalt, wenn seine Möglichkeiten breit genutzt und die Gefahren kollektiv abgesichert werden sollen. Die libertären Konzepte eines „jeder für sich selbst“ sind aber schon weit gediehen.
Das unterstreicht die Notwendigkeit immer erneuter sozialer Integration, denn die Digitalisierung fordert den sozialen Zusammenhalt massiv heraus. Bei der aktuell heftig diskutierten Integration von anerkannten Flüchtlingen in die Gesellschaft - einem herausgehobenen Unterfall der ständigen Integrationsaufgabe - spielt, wie auch sonst bei sozialer Integration, unsere Fähigkeit zur gegenseitigen Solidarität die letztlich ausschlaggebende Rolle. Hier hat auch das Element der Gegenseitigkeit eine erkennbar wichtige Bedeutung. Die alteingesessenen Bürgerinnen und Bürger erwarten zu Recht von den neuen, dass die sich auf ihre neuen Lebensbedingungen und deren Kultur einlassen. Umgekehrt gilt das aber auch für die Alteingesessenen. Das Prinzip der Gegenseitigkeit verträgt sich nicht mit Forderungen nach einer einfachen Assimilation der neuen Bürgerinnen und Bürger an ihre neue Heimat. Erwartet werden muss von ihnen aber das volle Einverständnis mit der politischen und sozialen Kultur der rechtsstaatlichen Demokratie.
Integration ist in Zukunft immer mehr auf gegenseitige Öffnung und – über persönliche Erfahrungen hinaus – auf Einsicht in soziale, kulturelle und psychologische Zusammenhänge angewiesen. Am wichtigsten ist die Herausbildung und weitere Verbreitung einer verbindenden Alltagspraxis in gemischten Lebenswelten, bei der sich die eigenen Interessen der Einzelnen und ihre gemeinsamen Interessen zwanglos verbinden können. Der Schlüssel für das Gelingen von Integration und des Zusammenhalts von Gesellschaften heißt gegenseitige Solidarität. Sie gedeiht am besten, wo Menschen sich sozial, kulturell, psychisch und materiell möglichst sicher fühlen. Solidarität und Sicherheit brauchen einander auch hier
Das solidarische Leben
Solidarität ist viel mehr als ein frommer Wunsch, der nur durch Ermahnungen beflügelt werden kann. Ihre Ermöglichung und Stärkung ist vielmehr ein politisches Projekt, das durch die dauerhafte Förderung und Pflege der gesellschaftlichen Felder, in denen sie praktisch wird, verwirklicht werden kann. Solidarität, die über Gerechtigkeit hinauswirkt, macht Gesellschaften menschlich und freundlich, nimmt ihnen die Kälte und vermittelt Sicherheit und Orientierung. Sie begünstigt, dass wir mit Empathie für andere leben und Mitmenschlichkeit wieder zu einer Alltagserfahrung wird. Unser Gemeinschaftserleben kann und muss wieder lebendiger werden. Daher gehört Solidarität heute erneut in den Mittelpunkt unseres politischen Engagements in der Sozialdemokratie. Und wie für Freiheit und Gerechtigkeit gilt der Satz: Der Weg ist das Ziel.