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Perspektivwechsel: Das Zeitalter des Menschen

Das Anthropozän - Unsere Verantwortung im Zeitalter des Menschen

Der Mainzer Nobelpreisträger Paul Crutzen hat unsere Erdepoche Anthropozän – Menschenwelt – genannt. Während sich die Menschheit über Jahrtausende vor den Naturgewalten schützen musste, ist sie seit der industriellen Revolution selbst zum stärksten Einflussfaktor im Erdsystem aufgestiegen.

Die Grundwertekommission der SPD hat diese Überlegungen zum Ausgangspunkt für ihr Papier „Perspektivwechsel – Das Zeitalter des Menschen“ genommen. Darin beschreibt sie die notwendige demokratische, ökologische und soziale Gestaltung der Transformation unserer Zeit aus sozialdemokratischer Perspektive. Im Zeitalter des Menschen geht es für uns um einen Perspektivwechsel, der alle Bereiche in Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft betrifft. Das fordert nicht nur unsere Partei heraus.

Die Menschheit überlastet die natürlichen Lagerstätten der Erde, beutet deren Ressourcen maßlos aus und zerstört die Biodiversität. Sie verändert das Klima, verschärft den Raubbau, vernichtet oder verlagert Tier- und Pflanzenarten. Sie tut dies in einer Geschwindigkeit, die um ein vielfaches höher ist als in vorindustriellen Zeiten. Damit schadet die Menschheit vor allem sich selbst.

Wir müssen in diesen Entwicklungen die dringende Mahnung erkennen, unverzüglich zu einer nachhaltigen sozial-ökologischen Transformation unserer Lebensverhältnisse zu kommen. Dafür brauchen wir einen neuen Gesellschaftsvertrag als demokratische Grundlage für eine gemeinsame und menschenwürdige Zukunft. Eine solche Fortschrittsvision, die weit über den Wohlfahrtsstaat hinausgeht, sollte eine europäische sein. Sie sollte von dem Kontinent ausgehen, der das heutige Weltmodell geprägt hat.

Für uns zeigt das Anthropozän jedoch nicht nur die Gefahren der ökologischen Selbstvernichtung der Menschheit auf. Es eröffnet auch die Chance, dass der Mensch als geschichtlicher Akteur wieder ins Zentrum rückt, um das technokratische Paradigma zu überwinden und die wirtschaftlichen Verwertungszwänge zu disziplinieren. Das ist unsere zuversichtliche Perspektive auf die Zukunft.

Das Papier zum Download

Perspektivwechsel: Das Zeitalter des Menschen

Die Transformation gestalten - demokratisch, ökologisch und sozial.

Eine sozial-ökologisch Transformation

Die SPD ist die erste Partei, die sich in einem Grundsatzpapier mit dem Anthropozän (Menschenwelt) beschäftigt. Diese neue geologische Erdepoche folgt auf das Holozän, das sich über die letzten 12.000 Jahre erstreckt hat. In dessen gemäßigter Warmzeit konnte sich die menschliche Zivilisation auf unserem Planeten einrichten. Doch während sich die Menschheit über Jahrtausende vor den Naturgewalten schützen musste, ist sie seit der industriellen Revolution zum stärksten Einflussfaktor im Erdsystem aufgestiegen.

Das Anthropozän ist ein tiefer Einschnitt in der Geschichte unseres Globus, der in seiner ganzen Tragweite wahrscheinlich erst in einigen Jahrzehnten richtig verstanden wird. Anders als wir das aus der Menschheitsgeschichte kennen, geht es nicht nur um regionale oder sektorale Naturzerstörungen, sondern um das Erdsystem als Ganzes. Die bisher entstandenen Überlastungen und Schädigungen der Natur haben eine neue Dimension angenommen. Der Widerspruch zwischen Wissen und Handeln wird gefährlich groß.

Deshalb ist ein Perspektivenwechsel notwendig. Die Politik muss neu ausgerichtet werden.

„Infolge einer rücksichtslosen Ausbeutung der Natur läuft er (der Mensch) Gefahr, sie zu zerstören und selbst zum Opfer dieser Zerstörung zu werden“, warnt Papst Franziskus in der Öko-Enzyklika Laudato Si‘. Deshalb gehört die ökologische Modernisierung von Wirtschaft und Gesellschaft ins Zentrum der Politik. Sie muss in einem engen Zusammenhang mit der sozialen Demokratie gesehen werden. Die Sozialdemokratie muss und will deshalb die ökologische Modernisierung sozial und demokratisch gestalten.

Den Vorschlag, unsere Erdepoche Anthropozän zu nennen, machten der Mainzer Nobelpreisträger für Chemie Paul J. Crutzen und der amerikanische Gewässerbiologe Eugene F. Stoermer im Jahr 2000. Die Internationale Stratigraphische Kommission (ICS), die für die Klassifizierung der Erdgeschichte zuständig ist, hat ihn auf dem 35. Weltkongress der Geologischen Gesellschaft (IUGS) zur Annahme empfohlen.

Kennzeichen des Anthropozän ist, dass die Menschheit die natürlichen Lagerstätten in der Erde überlastet, die Ressourcen der Erde maßlos ausbeutet und die Biodiversität zerstört. Die Menschheit verändert das Klima, verschärft den Raubbau, vernichtet oder verlagert Tier- und Pflanzenarten in einer Rate, die hundert bis tausend Mal höher liegt als in den vorindustriellen Zeitabschnitten. Und damit schadet sie sich selbst.

Die Grundwertekommission erkennt im Anthropozän die dringende Mahnung, unverzüglich zu einer nachhaltigen sozial-ökologischen Transformation unserer Lebensverhältnisse zu kommen. Sie setzt auf einen neuen Gesellschaftsvertrag als demokratische Grundlage für eine gemeinsame und menschenwürdige Zukunft. Diese Fortschrittsvision, die weit über den Wohlfahrtsstaat hinausgeht, sollte von Europa ausgehen, also von dem Kontinent, der das heutige Weltmodell geprägt hat.

Zuversichtliche Zukunftsperspektiven

Wir betonen ausdrücklich: Das Anthropozän zeigt nicht nur die Gefahren der ökologischen Selbstvernichtung der Menschheit auf. Es eröffnet auch die Chance, dass der Mensch als geschichtlicher Akteur wieder ins Zentrum rückt, um das technokratische Paradigma zu überwinden und die wirtschaftlichen Verwertungszwänge zu disziplinieren. Das ist unsere zuversichtliche Perspektive auf die Zukunft.

Zwar hat die Umweltpolitik seit Anfang der 1970-er Jahre eine eindrucksvolle Karriere hingelegt. Seit dem ersten Umweltprogramm, das 1970 von der sozialliberalen Koalition beschlossen wurde, hat es bei der Reinhaltung der Luft, der Sauberkeit der Gewässer oder der Verringerung der Abfallberge deutliche Verbesserungen gegeben. Doch zu einer nachhaltigen Umwelt-, Natur- und Klimaverträglichkeit ist es nicht gekommen.

Die Erdsystemforschung zeigt, dass planetarische Grenzen, die für das menschliche Leben essentiell sind, bei der Biodiversität, dem Klimawandel, dem Süßwasserverbrauch und dem Stickstoffeinsatz bereits überschritten sind. Bei der Vernichtung fruchtbarer Böden und der Verunreinigung der
Meere werden sie bald erreicht sein. Von daher ist das Anthropozän auch eine Kritik an der bisherigen Umweltpolitik.

Das Anthropozän sollte nicht losgelöst von kulturellen Einstellungen, gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen und wirtschaftlichen Verwertungszwängen gesehen werden. Die Konflikte des Kapitalismus sind in der Menschenwelt nicht überwunden, im Gegenteil. Ihre Zivilisierung bleibt der historische Auftrag der Sozialdemokratie, zumal der Kapitalismus auch ein wesentlicher Treiber der Naturzerstörung ist. Von daher spitzt die neue Erdepoche die Frage zu, wie eine wirtschaftliche und gesellschaftliche Ordnung aussehen muss, die demokratisch, ökologisch verträglich und sozial gerecht ist – national, europäisch und weltweit.

Papst Franziskus sieht entscheidende Ursachen für die heutige Krise in einem „fehlgeleiteten Anthropozentrismus“, der „Allgegenwart des technokratischen Wachstumsparadigmas“ und der „Verherrlichung des Marktes“. Ich füge hinzu: und in der sozialen Ungerechtigkeit, denn ärmere Schichten sind zumeist von den Umweltzerstörungen stärker betroffen, während reichere Schichten noch eine geraume Zeit mit den globalen Umweltbelastungen leben können. Die reichen Länder zählen zwar zu den Hauptverursachern der ökologischen Krise, aber sie sind nicht die Hauptbetroffenen.
Die Natur wird in der Regel nicht als Mitwelt verstanden, auf deren Schutz die Menschheit angewiesen ist, sondern zubereitet, isoliert und selektiv betrachtet. Ein unbegrenztes Wachsen, Nutzen, Verbrauchen und Wegwerfen ist aber nicht möglich. Auf Dauer können die Menschen nur existieren, wenn sie die Evolution in der Bandbreite bewahren, die ihr Leben sichert. Auf diesen anthropogenen Standard ist die Menschheit angewiesen. Er erfordert eine Wirtschaft auf solarer Basis, möglichst geschlossene Stoffkreisläufe und neue Maßstäbe für unsere wirtschaftliche Ordnung. Und er braucht mehr Demokratie und Gerechtigkeit.

Herausforderung an die Sozialdemokratie

Eine Alternative zu einer demokratischen und sozial-ökologischen Gestaltung gibt es nicht, wenn wir in Freiheit und Frieden überleben wollen. Denn während Öko-Systeme sich veränderten Bedingungen anpassen können, sind die Menschen dazu nur begrenzt in der Lage. Deshalb geht es nicht nur um einzelne Teilkorrekturen, sondern um ein neues Konzept von Fortschritt, in dem soziale und natürliche Mitwelt einander bedingen und gemeinsam geschützt werden müssen.

Wir sehen darin eine Herausforderung insbesondere an die Sozialdemokratie, deren historischer Antrieb eine freie, gerechte, solidarische und dadurch zukunftsfähige Gesellschaft ist. Die SPD muss die Gerechtigkeits- und Verteilungsfrage neu stellen, Dafür reicht es nicht aus, die Rolle des Umweltministers aufzuwerten, für einen grünen Lebensstil zu werben oder eine Green Economy aufzubauen. Wir knüpfen an die Idee der sozialen Emanzipation an, die zur leitenden Idee der europäischen Moderne wurde. Sie muss weiterentwickelt werden.

Wir sind davon überzeugt: Das Anthropozän muss nicht zum Niedergang der menschlichen Zivilisation werden. Wir haben die Zukunft in unserer Hand. Das, was der Mensch an der Natur angerichtet hat, kann der Mensch auch wieder verändern – im eigenen wie im gemeinsamen Interesse für ein gutes Leben heutiger und künftiger Generationen. Notwendig ist dafür eine „starke Nachhaltigkeit“6. Sie verwirklicht mehr Demokratie und Freiheit, mehr Vernunft und Verantwortung, mehr Solidarität und Gerechtigkeit. Die zukunftsorientierte Weiterentwicklung der Ideen der europäischen Moderne steht im Gegensatz zur konservativen Ideologie, die die Emanzipation des Menschen als Anmaßung verunglimpft.

Das Anthropozän erfordert ein visionäres Denken für einen neuen Fortschritt. Nach Albert Einstein brauchen wir diese „Vorschau auf die Attraktionen des künftigen Lebens“.